Rainer Hoffschildt

Statistik der Verfolgung homosexueller Männer durch Gesetzgeber, Justiz und Polizei in der Region des heutigen Baden-Württemberg

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Projekt „Namen und Gesichter“

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Statistik der Verfolgung homosexueller Männer durch Gesetzgeber, Justiz und Polizei in der Region des heutigen Baden-Württemberg

Rainer Hoffschildt

Reichsweit, also auch für diese Region, bestimmte ab 1532 Kaiser Karls V. und des Heiligen Römi schen Reiches “Peinliche Halsgerichtsordnung”, die “Constitutio Criminalis Carolina”, für bestimmte Sexualpraktiken Homosexueller den Feuertod. Die Gerichtspraxis milderte die Bestimmung im Laufe der Zeit ab.

Statistik der Verfolgung der „widernatürlichen Unzucht“ (Homosexualität und Sodomie) durch die Justiz im Großherzogtum Baden von 1829 bis 1844

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Die Untersuchungen und Verurteilungen in Baden in den 16 Jahren 1829 bis 1844 geschahen mit steigender Tendenz noch vor der Einführung eines neuen Strafgesetzbuches im Großherzogtum Baden im Jahre 1845, also noch in der Zeit der Carolina. (1) Es kam allerdings keinesfalls zu von der Carolina vorgesehenen Todesstrafe, aber zu Arbeitshaus-, Gefängnis- und Zuchthausstrafen. Die Mehrzahl der gerichtlichen Untersuchungen verlief allerdings im Sande (59%); nur in 41% der Fälle endete die Untersuchung mit einer Verurteilung.

Über die Art der “widernatürlichen Unzucht” in diesen 16 Jahren, ob es sich um Unzucht zwischen Männern oder mit Tieren handelt, gibt die Statistik leider keine Auskunft. Dass aber der eher agra risch geprägte Süden (Seekreis und Oberrhein) zwar zu 58% an den Verurteilungen 1829, 1831-36, 1839-44 beteiligt war, aber 1839 nur 30% Bevölkerungsanteil hatte, legt den Verdacht nahe, dass auch die Partner überdurchschnittlich agrarischen Ursprungs, also Tiere, sein könnten. Hingegen der eher urban geprägte Unterrhein mit weniger Tieren war zu den genannten Zeiträumen an der Bevölkerung mit 26% vertreten und an den Verurteilungen nur zu 11%. Aber dies bleibt Spekulation.

Durch Artikel 310 des “Strafgesetzes für das Königreich Württemberg” vom 1. März 1839 wurde Homosexualität straffrei, es sei denn die Handlungen waren mit der Erregung öffentlichen Ärgernis ses verbunden oder der Beleidigte, dessen Eltern oder Ehegatten klagten sie an. 1845 trat auch im Großherzogtum Baden ein neues Strafgesetz in Kraft, das Homosexualität im §371 nur noch in Verbindung mit einem öffentlichen Ärgernis bestrafte.

Quellen:
(1) Übersicht über die Strafrechtspflege im Großherzogtum Baden während des Jahres 1829 bis 1843.


Statistik der Verfolgung der „widernatürlichen Unzucht“ (Homosexualität und Sodomie) nach § 175 StGB durch die Justiz in der Region des heutigen Baden-Württemberg von 1882 bis 1915

1871 mit der Gründung des Deutschen Reiches wurde die Strafbarkeit bestimmter penetrierender Sexualpraktiken unter Männern mit dem § 175 Strafgesetzbuch zunächst im Norddeutschen Bund und ein Jahr später auch in Baden und in Württemberg wieder eingeführt.

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Die veröffentlichte Regionalstatistik der Kriminalisierung aufgrund § 175 StGB nach Tatorten im Königreich Württemberg, im Großherzogtum Baden und in den zu Preußen gehörenden Gebieten der Hohenzollern begann im Jahre 1882 und endete zunächst nach 34 Jahren 1915 vermutlich kriegsbedingt. (2) In diesem Zeitraum kam es zu 2.225 Verurteilungen, also durchschnittlich 65 pro Jahr. Zur höchsten Zahl von Verurteilungen kam es während der Zeit des Kaiserreiches in dieser Region mit 97 Verurteilungen im Jahre 1907, dem Jahr des Beginns des Eulenburg-Prozesses.

Die Region hatte einen Anteil von 12,5% an den Gesamtverurteilten im Deutschen Reich aber 1900 lediglich einen Anteil von 7,3% an der Gesamtbevölkerung. Daraus folgt, dass die Verfolgung aufgrund § 175 hier überdurchschnittlich ver lief.

Leider unterschied diese Statistik noch nicht in Verurteilungen wegen Homosexualität (§ 175, 1. Teil) und Sodomie (§ 175, 2. Teil), so dass genaue Angaben zur Verfolgung homosexueller Männer zunächst fehlen.

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Auch eine regionale Differenzierung ist möglich und lässt einen Vergleich mit dem jeweiligen Bevöl kerungsanteil des Landes zu: Württemberg und Sigmaringen hatte an der Bevölkerung des Deutschen Reichs im Jahr 1900 einen Anteil von 4%. Hingegen bei den Verurteilungen nach § 175 StGB (Homosexualität und Sodomie) nach Tatort in Württemberg und Sigmaringen lag der Anteil bei 5,9% der Verurteilungen im ganzen Reich, also weit überdurchschnittlich.

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In Württemberg war, gemessen am Bevölkerungsanteil im Königreich, die Verfolgung im Schwarz waldkreis und im Jagstkreis geringer und im Neckarkreis überdurchschnittlich und im Donaukreis weit überdurchschnittlich. In Sigmaringen war die Verfolgung unterdurchschnittlich.

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Offenbar gab es ein Ost-West-Gefälle der Verfolgung gemessen am Bevölkerungsanteil, das heißt im Osten war die Verfolgung stärker und im Westen geringer. In den östlichen Jagst- und Donau kreisen lag der Anteil der Verurteilungen bei 48%, hingegen der Bevölkerungsanteil lediglich bei 41%. In den westlichen Neckar- und Schwarzwaldkreisen und in Sigmaringen lag der Anteil der Verurteilungen lediglich bei 52%, hingegen der Bevölkerungsanteil bei 59%. Ein Nord-Süd-Gefälle gab es nicht.

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Das Großherzogtum Baden hatte im Jahr 1900 an der Bevölkerung des Deutschen Reichs einen Anteil von 3,3%. Hingegen der Anteil der Verurteilungen nach § 175 StGB (Homosexualität und Sodomie) an den Verurteilungen von 1882 bis 1915 im Deutschen Reich betrug mit 6,6% genau das Doppelte.

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In Baden zeigt sich, gemessen am Bevölkerungsanteil im Jahr 1900 im Großherzogtum, ein klares Süd-Nord-Gefälle der Verurteilungen. In den nördlichen Landeskommissariatsbezirken Mannheim mit den Regionen Heidelberg, Mannheim und Mosbach gehörten, und Karlsruhe mit den Regionen Baden und Karlsruhe war die Verfolgung mit 48% unterdurchschnittlich bei einem Bevölkerungsanteil von 57%. In den südlichen Landeskommissariatsbezirken Konstanz mit den Regionen Konstanz, Villingen und Waldshut, und Freiburg mit den Regionen Freiburg, Lörrach und Offenburg war die Verfolgung mit 52% überdurchschnittlich, hingegen der Bevölkerungsanteil lediglich 43%.

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Auch die 17 Verurteilungen in der Preußischen Provinz Sigmaringen von 1882 bis 1915 nach § 175 (gesamt) seien mit sogar sinkender Tendenz dargestellt. In Sigmaringen war die Verfolgung unterdurchschnittlich. In 20 Jahren gab es gar keine Verurteilungen, je 1 in 11 Jahren und je 2 in 3 Jahren.

Quellen:
(2) Statistik des Deutschen Reiches, Neue Folge, Kriminalstatistik, Hrsg.: Kaiserliches Statistisches Amt, später Statistisches Reichsamt, Berlin, bearbeitet im Reichs-Justizamt, später Reichsjustizministerium und im Kaiserlichen Statistischen Amt, später Statistisches Reichsamt, ab Band 8 für 1882 bis Band 577 für 1935/36.


Statistik der Verfolgung der “widernatürlichen Unzucht» (nur Homosexualität) nach § 175 StGB durch die Justiz in der Region  des heutigen Baden-Württemberg von 1902 bis 1914

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Erst ab 1902 bis 1914 veröffentlichte man 13 Jahre lang differenziertere Statistiken, nun allerdings nach Verurteilungen in den relevanten Oberlandesgerichtsbezirken Stuttgart (Württemberg) und Karlsruhe (Baden). Wiederum ergeben sich leichte Ungenauigkeiten, was die Gesamt-Region Baden-Württemberg angeht,, da die Region Hohenzollern statistisch zunächst dem preußischen Frankfurt am Main zugeschlagen und in dessen Angaben nicht gesondert erwähnt wurden. Es dürfte sich im ganzen Zeitraum aber nur um etwa 3 Verurteilungen in Sigmaringen gehandelt haben.

In diesem Zeitraum kriminalisierte man 617 Männer wegen homosexueller Handlungen, also im Mittel 47 pro Jahr. 1902 kam es in den Oberlandesgerichtsbezirken Stuttgart und Karlsruhe zu lediglich 25 Verurteilungen wegen homosexuellen Verhaltens von Männern, 1912 zum höchsten Wert von 64 und 1914 noch zu 49. In diesem Zeitraum hatte die Region einen Anteil von sogar 13,4% an den Gesamtverurteilten im Deutschen Reich aber 1900 lediglich etwa 7% der Bevölkerung. Der fast doppelt so hohe Anteil an den Kriminalisierungen weist auf eine weit überdurchschnittliche Verfolgung Homosexueller hin.

Gleicht man trotz der unterschiedlichen Zielrichtungen obiger Statistiken, einmal Tatortstatistik Ver urteilter – zum anderen Statistik nach Ort des Urteils, miteinander ab, so zeigt sich, dass für den Zeitraum 1902 – 1914 lediglich 60% der Verurteilungen wegen homosexueller Handlungen erfolgten (Baden 59%, Württemberg 63%) und der Rest wegen sexueller Handlungen mit Tieren. Reichsweit lag der Anteil der Verurteilungen wegen homosexuellen Verhaltens in diesem Zeitraum lediglich bei 54%, anderswo wurden Homosexuelle also vermutlich geringer verfolgt. Später sank der Anteil der Verurteilungen der Sodomie mit dem Anstieg der Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit reichs weit auf unter 10%.



Statistik der Verfolgung nach § 175 (Homosexualität und Sodomie) durch die Justiz in der Region des heutigen Baden-Württemberg in der Zeit der Weimarer Republik von 1925 bis 1932

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Erst ab 1925 wurde die nach Oberlandesgerichtsbezirken differenzierende Statistik erneut veröffent licht, nun aber wiederum die Werte für § 175 StGB insgesamt, also zusammen für Homosexualität und Sodomie. Die Werte für die Regionen Hohenzollern waren ab 1923 in denen des Oberlandesgerichts Stuttgart enthalten. 1925 lag der Wert für die gesamte Region bei 99 Verurteilungen und 1932 noch bei 111. Ein Maximum der Verurteilungen für die Zeit der Weimarer Republik wurde in der Region 1926 mit 148 Verurteilungen erreicht. Dieses Maximum im Jahr 1926 dürfte noch der Massenhysterie nach der Aufdeckung der 24 Haarmann-Morde in Hannover im Jahr 1924 zu verdanken sein, der im Sexrausch Jungen und junge Männer ermordet hatte und 1925 hingerichtet wurde. Ebenso entwickelte sich auch die Zahl der Verurteilungen im ganzen Reich.

Nach 1926 sanken die Verurteilungen in Württemberg und Hohenzollern von 78 auf 47 ziemlich kontinuierlich ab und auch der Gesamttrend sank. In Baden hingegen wurde erst 1930 ein Maximum mit 79 Verurteilungen erreicht.

An den Verurteilungen im Deutschen Reich hatten Württemberg und Baden einen Anteil von 13,2%. Hingegen lag der Bevölkerungsanteil der Region bei 7,9%. Dies belegt eine weit überdurchschnittliche Kriminalisierung in der Region, wobei diese in Baden noch krasser ausfiel als in Württemberg.



Statistik der Verfolgung nach § 175 in der alten Fassung (1933 bis 1935) und nach den §§ 175, 175a StGB in den NS-Fassungen (1935 bis 1939) in der Region des heutigen Baden-Württemberg in der NS-Zeit

Waren die Verurteilungen nach § 175 (Homosexualität und Sodomie) in Baden und Württemberg in der Weimarer Zeit auf zuletzt 111 gesunken, so stieg diese Zahl gleich 1933 auf 139 Verurteilungen. Der weitere Anstieg bis 1935 mit 186 Verurteilungen fiel noch recht moderat aus. Der letzte veröf fentlichte Wert ist aus dem Jahr 1936 und betrug nun bereits 425 Verurteilungen. In den ersten vier Jahren der NS-Herrschaft hatten sich die Verurteilungen fast vervierfacht. 1933 – 1936 hatte die Region einen Anteil von 9,9% an den Gesamtverurteilten im Deutschen Reich aber lediglich etwa 7,9% der Gesamtbevölkerung. Dies lässt immer noch eine überdurchschnittliche Verfolgung vermuten.

Der starke Anstieg in der NS-Zeit erklärt sich durch den verstärkten Verfolgungsdruck gegen homosexuelle Männer durch den NS-Staat. 1935 war der § 175 mit fast unbegrenzten Straftatbe ständen radikal zum Totalverbot verschärft und ein neuer § 175a mit speziellen Straftatbeständen eingeführt worden. Die Höchststrafe, zuvor 5 Jahre Gefängnis, lag nun bei 10 Jahren Zuchthaus. Auch eine nicht durchgeführte versuchte Handlung und Beihilfe wurden strafbar.

Die geschätzten Verurteilungen aufgrund der §§ 175 und 175a, also ausschließlich aufgrund homosexuellen Verhaltens, dürften 1937 noch weiter auf etwa 519 angestiegen und dann 1938 wieder auf 420 abgefallen und möglicherweise 1939 wieder auf 480 gestiegen sein. Während die geschätzten Verurteilungen für Baden anscheinend 1937 ein Maximum hatten, stieg die Zahl in Württemberg anscheinend noch bis 1939 weiter an. Dies lässt sich aber lediglich aus der unten dargestellten Anklagestatistik der Oberlandesgerichtsbezirke ableiten, da die regionale Urteils statistik nicht mehr veröffentlicht wurde. Grundlage der Urteilsschätzungen ist, dass in den Jahren 1937 und 1938 die Gesamturteile im Reich an den Gesamtanklagen einen Anteil von 77,1% hatten.

Die Zahl der Anklagen, nunmehr nur aufgrund §§ 175 und 175a, also ausschließlich aufgrund homo sexuellen Verhaltens, erreichte mit seinem ersten überlieferten Wert aus dem Jahre 1937 seinen höchsten Wert mit 673 Anklagen in der Region und sank 1938 auf 545 Anklagen. (3) Für 1939 steht nur noch der Wert des 1. Halbjahres zur Verfügung, der verdoppelt 622 geschätzte Anklagen im Jahr ergibt. Der Anteil der Anklagen in dieser Region an den reichsweiten Anklagen 1937 lag nur bei 6,4% und sank 1938 sogar auf 5,3% ab. Der Bevölkerungsanteil der Region am Deutschen Reich betrug 1933 7,9%. Dies lässt vermuten, dass die Spitzen der reichsweiten Verfolgung männlicher Homosexueller hier gemilderter ausfielen.

Auch die Zahl der aufgrund § 175 StGB im Bereich der Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart polizeilich ermittelten Täter sank von 1.412 im Jahre 1937 auf 1.159 im Jahre 1938 ab. (4) Für 1939 ist dann lediglich noch die Zahl für das 1. Vierteljahr mit 264 Täterermittlungen überliefert. Dieser Wert lässt ein weiteres Absinken vermuten. Insgesamt kam es 1937 bis zum 1. Vierteljahr 1939 zu 2.835 Täterermittlungen. Vermutlich war die Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart aber für eine viel größere Region zuständig als das heutige Baden-Württemberg, so dass diese Werte nur Tendenzaussagen zulassen.

Weitere regionale Statistiken für Baden-Württemberg wurden bisher nicht aufgefunden und sind dann kriegsbedingt wohl auch nicht mehr erstellt worden.

Fazit für den Zeitraum 1882 bis 1939: Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil waren die Verurtei lungsanteile in der betrachteten Region über die meiste Zeit deutlich überdurchschnittlich, aber nicht in den wenigen Jahren der stärksten Verfolgung durch den NS-Staat. Folglich erscheint die Verfol gungsintensität aufgrund § 175 StGB hier überwiegend größer als in anderen Teilen des Deutschen Reiches.

Im Gegensatz zu anderem vom NS-Staat eingeführtem Unrecht, das auf Befehl der Alliierten abgeschafft wurde, blieben die NS-§§175, 175a und 175b bis 1969 erhalten.

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Quellen:
(3) Vierteljahresberichte des Reichsjustizministeriums zur Anklagestatistik. Bundesarchiv, R 22/1163-1164.
(4) Polizeiliche Kriminalstatistik für das Deutsche Reich. Bundesarchiv R 22/1163-1164.


Statistik der Verfolgung nach den §§ 175, 175a StGB in den NS-Fassungen durch die Justiz in der Region des heutigen Baden-Württemberg in der Nachkriegszeit bis 1969

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Die Kontinuität der Verfolgung homosexueller Männer im NS-Staat und in den Westzonen und der Bundesrepublik wird deutlich durch die Darstellung der Urteile nach § 175 und § 175a im Urteilsregister des Landgerichts Freiburg i. Br. 1935 bis 1950. (5)

Für die Zeit der Bundesrepublik liegen mir für das Bundesland Baden-Württemberg nur Zahlen von Verurteilungen aufgrund der §§ 175 und 175a vor für die Jahre 1952 – 1971. (6) Außerdem sind in im Wert für 1952 die Verurteilungen aufgrund § 175b, Sodomie, enthalten. In den Jahren 1954 bis 1969 hatten die Verurteilungen aufgrund von § 175b, Sodomie, aber bundesweit nur noch einen Anteil von 2,7% an den Verurteilungen aufgrund aller §§ 175.

Außerdem sind Aburteilungen aufgrund der §§ 175 und 175a für die Jahre 1952 – 1970 bekannt. Leider sind auch hier für die Jahre 1952 – 1958 und 1964 – 1969 die Werte der Aburteilungen aufgrund § 175b, Sodomie, enthalten.

In den Aburteilungen sind auch z.B. die Freisprüche und Verfahrenseinstellungen enthalten. Dafür liegen mir aber die Zahlen der Täterermittlungen der “polizeilichen Kriminalstatistik des Landes Baden-Württemberg komplett von 1953 bis 1994 vor. (7)

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Bereits 1952 lag die Zahl der jährlichen Verurteilungen aufgrund der §§ 175, 175a, mit 431 Verur teilungen recht hoch. Ab 1955 lag die Zahl der Verurteilungen aufgrund §§ 175 und 175a mit 537 Verurteilungen über dem Niveau der geschätzten maximalen Zahl der Verurteilungen während der NS-Zeit. Aus der Kriminalstatistik der Polizei ist ersichtlich, dass 1953 bereits 932 “Täter», die gegen die §§ 175 und 175a verstoßen hatten, ermittelt wurden und dass sich die “Täter»-Ermittlungen ab 1957 mit 1.541 ermittelten “Tätern» sogar über dem Niveau der “Täter»-Ermittlungen der Kriminalpo lizeileitstelle Stuttgart in der NS-Zeit befand.

Die Entwicklungen der Aburteilungen und Verurteilungen zusammen belegen ein eindeutiges Maxi mum der Verfolgung homosexueller Männer im Jahre 1959 mit 995 Aburteilungen und 902 (91%) Verurteilungen aufgrund der §§ 175 und 175a. Zu keiner Zeit wurden Homosexuelle in Baden-Würt temberg stärker verfolgt als im Jahr 1959. Die Verurteilungszahl von 1959 übersteigt sogar das geschätzte Maximum in der NS-Zeit von 1937 mit 519 Urteilen um 383 Urteile (74%). 696 (77%) Männer wurden in diesem Jahr wegen “einfacher Unzucht zwischen Männern” (§ 175) und 206 (23%) wegen “schwerer Unzucht zwischen Männern” (§ 175a) verurteilt.

Unter den Verurteilten waren 644 (71%) Personen 21 Jahre alt und älter und 258 (29%) unter 21 Jahre alt. 683 (76%) Personen wurden nach “Allgemeinem Strafrecht” verurteilt und 219 (24%) nach “Jugendstrafrecht”. 437 (48%) Männer wurden zu Haftstrafen, 271 (30%) zu Geldstrafen und 189 (21%) nach Jugendstrafrecht zu Zuchtmittel und Erziehungsmaßregeln verurteilt. Die 437 Haftstrafen bestanden aus 18 (4%) Verurteilungen zu einer Zuchthausstrafe, 394 (90%) zu Gefängnis, 25 (6%) zu Jugendstrafe.

1959 hatte Baden-Württemberg einen Anteil von 14,5% an der Bevölkerung der Bundesrepublik ohne Berlin (West) und das Saarland. Zu den 3.530 bundesweiten Verurteilungen ohne Berlin (West) und das Saarland trug das Land aber einen Anteil von 26% bei, zu den Verurteilungen nach § 175 einen Anteil von 29% und zu den Verurteilungen nach § 175a einen Anteil von 18%. Der Anteil der Kriminalisierung von homosexuellen Handlungen unter erwachsenen Männern von 29% überstieg den Bevölkerungsanteil von 14,5% um genau das Doppelte.

Nach 1959 sanken in der Region die Urteilszahlen auf wundersame Weise auch ohne Gesetzes änderung ziemlich kontinuierlich ab bis auf 192 Verurteilungen nach §§ 175, 175a im Jahre 1969.

1959 wurde ebenfalls das bundesweite Maximum mit 3.530 Verurteilungen aufgrund der §§ 175 und 175a erreicht ohne Berlin (West) und das Saarland. Es lag allerdings im Gegensatz zur Entwicklung in Baden-Württemberg ganz erheblich unter dem reichsweiten Maximum von 8.562 Verurteilungen aufgrund §§ 175, 175a und 175b im Jahre 1938.

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Quellen:
(5) Ich danke William Schaefer, Denzlingen, für die Informationen.
(6) Statistisches Handbuch Baden-Württemberg: (1950), 1955, 1958. Statistisches Taschenbuch Baden-Württemberg: 1963, 1964, 1968,1972. Statistische Berichte des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg, Rechtskräftig Abgeurteilte: 1954-61, 1965-70. Statistische Monatshefte Baden-Württemberg 1952-1955.
(7) Landeskriminalamt Baden-Württemberg, Polizeiliche Kriminalstatistik 1979-87, 1990-94.


Statistik der Verfolgung nach den §§ 175, 175a StGB in den NS-Fassungen durch die Polizei in Baden-Württemberg in der Nachkriegszeit bis 1969

1959 wurde auch das Maximum der “Gesamtzahl der als Täter festgestellten Personen” von 1.929 Personen, die wegen “Unzucht zwischen Männern” von der Polizei in Baden-Württemberg ermittelt wurden, erreicht und damit 1.886 Fälle der 1.933 neu gemeldeten Fälle zu 98% aufgeklärt. Unter den “Tätern” waren im Zeitraum von 1954 bis 1969 67,9% Erwachsene (21 Jahre und älter), 13,3% Heranwachsende (18 bis unter 21 Jahre), 17,2% Jugendliche (14 bis unter 18 Jahre) und sogar 1,6% Kinder (bis unter 14 Jahre). Unter ihnen befanden sich im Jahr 1959 auch 53 “reisende Täter”, 0 “Landfahrer” und 68 nichtdeutsche “Täter”. Tatorte waren im Jahr 1959 zu 27% Großstädte, 41% Mittelstädte, 16% Kleinstädte und ebenfalls zu 16% das Landgebiet.

An der Bundesbevölkerung inklusive Berlin hatte Baden-Württemberg einen Anteil von 13,6%, an den bundesweiten “Täterermittlungen” einen Anteil von 22%. Dies verdeutlicht einen nie da gewesenen Terror der Polizei gegen homosexuelle Männer.

Nach 1959 sanken die Zahlen der ermittelten “Täter” auf wundersame Weise auch ohne Gesetzes änderung erheblich ab bis auf 493 polizeilich ermittelten“Täter” im Jahr 1969.

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Hier wird sehr deutlich, wo 1959 die enorme Zahl von 797 “Straftaten» anfiel: Es geschah in den Mittelstädten.

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Sogar eine monatliche Statistik der in Baden-Württemberg bekannt gewordenen “Straftaten” nach “§175” führte die Polizei von 1956 bis 1970. Für November 1959 ergibt sich mit allein 345 “Straf taten” ein Maximum.

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Exkurs: Statistik der Verfolgung nach den §§ 175 und 175a in den NS- und BRD-Fassungen durch die Polizei im Regierungsbezirk Südbaden von 1953 bis 1970

Die polizeiliche Kriminalstatistik liegt für die Jahre 1953 bis 1970 auch für den Regierungsbezirk Südbaden vor.(8) Auch hier wurden die Maxima der 5.669 in diesem Zeitraum bekannt gewordenen “Straftaten» 1959 mit 802 Fällen erreicht. Eine gleichhohe Zahl von Fällen klärte die Polizei in diesem Jahr auf. Mit 526 Täterermittlungen wurde 1959 die Höchstzahl der insgesamt 4.805 in dieser Region in diesem Zeitraum ermittelten Täter erreicht.

In diesem Jahr ermittelte die Polizei mit 344 Erwachsenen (21 Jahre und älter) die höchste Zahl dieser “Täter”, ebenso mit 109 Heranwachsenden (18 bis unter 21 Jahre) die höchste Zahl dieser “Täter”, 73 Jugendliche (14 bis unter 18 Jahre) und 0 Kinder (bis unter 14 Jahre) als “Täter». Die höchste Zahl der in diesem Zeitraum ermittelten 1.021 Jugendlichen fiel 1955 mit 130 “Tätern” an. Die höchste Zahl der in diesem Zeitraum ermittelten 80 Kinder fiel 1964 mit 22 “Tätern” an.

1965, 1968 und 1969 ermittelte die Polizei auch je 1 erwachsene Frau als “Täterin”. Es kann sich hier um Beihilfe zu “Unzuchtszwecken” handeln, z.B. durch Vermittlung oder Überlassung eines Zimmers. Unter den “Tätern” befanden sich im gesamten Zeitraum auch 213 Nichtdeutsche (4,4%).

Südbaden, das damals einen Bevölkerungsanteil von etwa 21% an der männlichen Bevölkerung Baden-Württembergs aufwies, trug 1959 zu 41% der bekanntgewordenen Fälle und zu 27% der ermittelten “Täter” des Landes bei.

Die im gesamten Zeitraum ermittelten Tatorte der “Unzucht zwischen Männern” waren mit 1.855 Fällen (33%) zumeist Mittelstädte (20.000-100.000 Einwohner), dicht gefolgt mit 1.830 Fällen (32%) vom Landgebiet (bis 5.000 Einwohner), dann mit 1.185 Fällen (21%) Kleinstädte (5.000-20.000 Einwohner) und schließlich mit lediglich 799 Fällen (14%) Großstädte (100.000 und mehr Einwohner).

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Nun läßt sich auch genauer sagen, wo der enorm hohe Wert von der Polizei bekannt gewordenen “Straftaten” nach “§ 175” in Baden-Württemberg 1959 entstand: Es geschah in einer Mittelstadt in Südbaden.

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Quellen:
(8) Polizeiliche Kriminalstatistik des Regierungsbezirks Südbaden 1953-1970. Ich danke William Schaefer, Denzlingen, für die Informationen.


Statistik der Verfolgung nach den §§ 175 in den zwei Fassungen der Bundesrepublik Deutschland durch die Polizei in Baden-Württemberg ab 1970 bis 1994

Erst 1969 waren die NS-Fassungen der §§ 175, 175a und 175b von 1935 abgeschafft und ein neuer §175 eingeführt worden, der homosexuelles Verhalten unter Männern nur noch bestrafte, sofern ein Mann über 18 Jahre mit einem Mann unter 21 Jahre sexuell verkehrte. Diese sogenannte “Schutz altersgrenze” diskriminierte homosexuelle Männer weiterhin, da die “Schutzaltersgrenze” für hetero sexuellen Verkehr geringer lag. Außerdem bestrafte man weiterhin sexuelle Handlungen mit Abhängigen und die Strichjungentätigkeit. Eine Befreiung homosexueller Männer von der Strafverfolgung durch NS-Paragraphen gab es also nicht 1945, sondern erst 1969.

Bereits 1973 änderte der Bundestag nochmals §175: Nun wurden nur noch sexuelle Handlungen eines Mannes über 18 Jahren an einem Mann unter 18 Jahren bestraft. Die Diskriminierung homosexueller Männer wurde beibehalten.

Unter das Niveau der Verfolgung homosexueller Männer vor der NS-Zeit sank die Zahl der Verur teilungen in Baden-Württemberg aber erst 1970 mit 47 Verurteilungen aufgrund § 175. 1933 hatte es noch 139 Verurteilungen aufgrund § 175 (alt) gegeben. Leider konnte ich weitere Urteilszahlen für die Jahre 1972 bis 1994 bislang nicht auffinden; es liegen aber die Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik komplett vor.

Da ab 1973 § 175 ausschließlich auf die Kriminalisierung über 18-jähriger homosexueller Männer abzielte, wurden durch die Polizei 1973 noch ein letztes Kind und die letzten 23 Jugendlichen als Täter ermittelt.

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Zwischen 1970 und 1994, dem Jahr der Abschaffung des § 175, ermittelte die Polizei in Baden-Württemberg aber weiterhin im Durchschnitt jährlich 150 “Täter” aufgrund von §175. Erst in den letzten fünf Jahren des Bestehens des §175, 1990 – 1994, sank der Anteil an den bundesweiten Täterer mittlungen von 14,4% unter den des Bevölkerungsanteils von mittlerweile 15,3% im Jahre 1989.

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Dass 1970 und 1991 die Aufklärungsquote über 100% liegt, ist dadurch zu erklären, dass in diesen Jahren verstärkt “Straftaten” aus früheren Jahren aufgeklärt wurden.

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Der Anteil der Verstöße gegen “§ 175” an der Gesamtzahl bekanntgewordener Straftaten lag im Mittelwert von 1970 bis 1994 bei 0,0%. Mithin dürfte die Verfolgung der Polizei eher nachrangig erschienen sein.

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Es zeigen sich zwei Extremwerte:

  • 1971 fallen in eher ländlicher Umgebung 741 “Straftaten” an. In diesem Jahr werden dort sehr viele Fälle von Strichjungentätigkeit und “Unzuchtshandlungen unter Männern” bekannt.
  • 1979 fallen in Großstädten mit 471 “Straftaten” außerordentlich viele an.

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Exkurs: Statistik der Verfolgung nach den §§ 175, 176 I Ziffer 3 StGB durch die Polizei Baden-Württembergs von 1971 bis 1973

Statistisch besonders interessant sind die Jahre 1971 bis 1973, denn der Gesetzgeber hatte sich bemüht, den § 175a in der NS-Fassung von 1935 in der neuen Fassung des § 175 von 1969, was die Straftatbestände anging, soweit wie möglich zu erhalten. Dies schlug sich in der Verfolgungsstatistik sehr kompliziert nieder.

  • § 175 Absatz I, Ziffer 1, StGB (1969-1973), mit dem das “Unzucht treiben” von über 18-Jährigen mit unter 21-Jährigen verboten werden sollte, ähnelt dem § 175a, Ziffer 3, StGB (1935-1969), mit dem eine “Verführung» von unter 21-Jährigen durch über 21-Jährigen verboten worden war.
  • § 175 Absatz I, Ziffer 2, StGB (1969-1973) entspricht in etwa § 175a, Ziffer 2, StGB (1935-1969), mit dem die “Unzucht mit Abhängigen” bestraft werden sollte.
  • § 175 Absatz I, Ziffer 3, StGB (1969-1973) entspricht in etwa § 175a, Ziffer 4, StGB (1935-1969) mit dem die “Strichjungentätigkeit” bestraft werden sollte. Heterosexuelle Prostitution war hingegen nicht strafbar.
  • § 176 Absatz I, Ziffer 1, StGB (1969) entspricht in etwa § 175a, Ziffer 1, StGB (1935-1969), mit dem die “Gewaltunzucht” bestraft werden sollte.

Nur für die drei Jahre 1971 bis 1973 veröffentlichte man eine so differenzierte Statistik über die doch sehr verschiedenen Straftatbestände. Diese Straftatbestände dürften auch die Jahre zuvor ihren Anteil an der Kriminalisierung homosexueller Männer durch §175a in der NS-Fassung (1935-1969) gehabt haben.

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In diesen drei Jahren wurden der Polizei Baden-Württemberg 1.480 “Straftaten” bekannt, darunter 1971 ganz außerordentlich viele “Strichjungentätigkeiten” und “Unzuchtshandlungen zwischen Männern”, während die “Gewaltunzucht unter Männern” anscheinend im Rahmen des Üblichen blieb.” Wahrscheinlich hatten 1971 einige “Strichjungen” viele Straftaten gestanden und die Namen ihrer Freier nennen können. Dies dürfte die ebenfalls enorme Zahl von 905 der 1971 der Polizei bekannt gewordenen “Straftaten» erklären. 741 dieser “Straftaten” fanden in Tatortgemeinden von unter 20.000 Einwohnern statt.

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Für die drei Jahre zusammen dürfte wegen der Ereignisse im Jahr 1971 der Anteil der “Strichjun gentätigkeit” von 31% überhöht sein und die anderen Anteile verkleinern. Trotzdem ist der hohe Anteil der “Strichjungentätigkeit» bemerkenswert. Hier dürften auch Heterosexuelle Opfer des § 175 geworden sein, denn “Strichjungen» gehen ihrem Gewerbe oft aus sozialer Not nach und nicht, weil sie homosexuell sind.

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Für die 341 “Straftaten” der “Strichjungentätigkeit” ermittelte die Polizei 1971 lediglich 36 “Täter”. Fast 10 “Taten” kamen 1971 im Durchschnitt auf jeden ermittelten “Strichjungen”. In den beiden folgenden Jahren war es dann im Durchschnitt je 1 “Tat” pro “Strichjunge”.

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Die Aufklärungsquote der “Strichjungentätigkeit” von 99,3% zeigt, dass 1971 bis 1973 fast jeder bekannt gewordener Fall auch aufgeklärt wurde. Hoch und überdurchschnittlich war mit 96,1% auch die Aufklärungsquote für die “Unzucht zwischen Männern”. Hingegen konnten die Fälle der “Gewalt unzucht unter Männern” nicht so gut aufgeklärt werden; diese Aufklärungsquote lag nur bei 86,9%. Sie gehörte gar nicht zur Verfolgung homosexueller Männer durch § 175 und wurde nach 1973 nicht mehr gesondert veröffentlicht.

Das Ende des § 175 im Jahr 1994

Nach dem Beitritt der neuen Bundesländer zur Bundesrepublik herrschte Rechtsungleichheit in Deutschland. Die DDR hatte eine gesonderte Strafbarkeit der Homosexualität bereits 1988 abgeschafft und auf der Beibehaltung dieser Regelung beim Beitritt bestanden. 1994 wurde die Rechtsgleichheit wieder hergestellt, indem der § 175 abgeschafft und eine verschärfte geschlechts neutrale Fassung des § 182 (Sexueller Missbrauch von Jugendlichen) eingeführt wurde, die Homosexuelle nicht mehr diskriminierte.

Fazit für die Jahre 1952 bis 1994: Fast die ganze Zeit über war die Verfolgung homosexueller Männer durch Polizei und Justiz in Baden-Württemberg vermutlich überdurchschnittlich, zeitweise belegbar erheblich überdurchschnittlich.

Am 1. August 2001 trat erneut ein Sondergesetz für Homosexuelle in Kraft, die Verpartnerung, eine Ehe zweiter Klasse, wurde auch für Homosexuelle möglich. Sicher ein Fortschritt, aber dies zeigte zugleich, dass die Gesellschaft immer noch nicht soweit war, allen Mitbürgern die gleichen Rechte zuzugestehen.


Projekt “Namen und Gesichter”

Rainer Hoffschildt

Seit 1980 baue ich mein Archiv auf und seit 1987 arbeite ich an meinem Projekt “Namen und Gesichter”, mit dem ich versuche, so viele durch den NS-Staat verfolgte homosexuelle Männer wie möglich namentlich zu ermitteln und soweit wie möglich ihr Schicksal zu klären. Falls vorhanden, versuche ich auch Fotografien der Personen zu erhalten und ihnen so ihr Gesicht zurückzugeben.

Bis 2016 habe ich rund 20.000 “§ 175”-Opfer ermittelt, darunter 3.750 KZ-Häftlinge, 1.550 Emslandlager-Häftlinge und über 700 Häftlinge aus den Lagern Rodgau in Hessen. Am Anfang meiner Forschung habe ich mich auf die Lager-Häftlinge konzentriert, weil hier die schwereren Schicksale vermutet werden können. Dementsprechend dürften die schwereren Haftschicksale bei den Darstellungen überproportional vertreten sein. Später habe ich die Daten ganzer Strafgefängnisse und Zuchthäuser durchgearbeitet.

Es flossen Daten aus über 30 Archiven und Gedenkstätten in meine Sammlung ein: z.B. aus Auschwitz, Bad Arolsen, Bergen-Belsen, Berlin, Bremen, Buchenwald, Dachau, Darmstadt, Detmold, Düsseldorf, Freiburg, Hamburg, Hannover, Magdeburg, Majdanek, Mittelbau-Dora, Moringen, Natzweiler, Neuengamme, Osnabrück, Papenburg, Prag, Ravensbrück, Sachsenhau sen, Schleswig, Schwerin, Wien, Wiesbaden, Wolfenbüttel und Yad Vashem, um nur die wichtig sten zu nennen. Ergänzende Informationen kamen auch aus einigen Stadtarchiven, einigen Meldebehörden und von zahllosen Standesämtern. Der Forschungsschwerpunkt lag meist aus finanziellen Gründen eher im Norden Deutschlands. Es ergaben sich zahlreiche Kooperatio nen mit anderen Forschern in ganz Deutschland, die mir ihre regional erhobenen Daten überließen. Sie wollten dann von mir z.B. das Schicksal der Personen im KZ wissen. In rund 20 Städten konnte ich bei Stolpersteinsetzungen behilflich sein. Für viele Gedenkveranstaltungen, Vorträge und Ausstellungen konnte das Material verwendet werden.

Gefördert wurde die Forschung durch den Verein zur Erforschung der Geschichte der Homosexuellen in Niedersachsen e.V., durch die Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten und durch das Schwulen Forum Niedersachsen, denen ich danke. Mein besonderer Dank geht auch an Wilhelm Grimm (1941-2012) und den Historiker Christian-Alexander Wäldner, die mir jahrelang halfen.

Obwohl ich mehr in Norddeutschland forschte, sind mir doch 680 NS-Opfer mit Bezug zu Baden-Württemberg namentlich bekannt. Bezug zu Baden-Württemberg heißt, sie sind hier geboren worden oder hatten hier ihren letzten Wohnsitz, sie wurden hier verhaftet oder verurteilt oder in Strafhaft genommen.

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Von den 680 namentlich bekannten Personen hatten auch 509 § 175-Opfer ihren letzten Wohnsitz vor der Verfolgung in Baden-Württemberg. Falls der letzte Wohnort nicht bekannt war, wurde ersatzweise der Geburtsort herangezogen: 3 kamen aus Hohenzollern, 178 aus Württemberg und 329 aus Baden. Obwohl Württemberg 1939 einen Anteil von 53% an der damaligen Bevölkerung dieser Region hatte, liegt der Anteil der bekannten Verfolgten aus Württemberg lediglich bei 35%. Dies liegt an der intensiven Forschung, die William Schaefer in Südbaden betrieb und macht zugleich ein erhebliches Forschungsdefizit in Württemberg deutlich.

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Von 515 Opfern ist ihr Beruf bekannt. Mit 56% überwogen die Arbeiter und Handwerker. 25% waren Angestellte und Kaufleute. 19% kamen aus anderen Berufsbereichen: Akademische Berufe, öffentlicher Dienst, Kirchendienst, Künstler, Selbständige, Rentner und Schüler.

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Von 364 Personen ist der Familienstand bekannt. Wie zu erwarten, war die große Mehrheit, 77%; ledig, aber 23% waren irgendwann verheiratet oder waren es noch. Das weist darauf hin, dass unter den § 175-Opfern auch Bisexuelle und Heterosexuelle sein dürften. Es könnte aber auch sein, dass Ehen eingegangen wurden, um das bürgerliche Familienideal vorzutäuschen. Je älter jemand war, um so eher war der Familienstand nicht mehr ledig: 222 Ledige waren im Mittel zum Urteil 31 Jahre alt, 44 Verheiratete waren im Mittel 38 Jahre alt, 16 Geschiedene waren im Mittel 40 Jahre alt und 3 Verwitwete waren im Mittel 51 Jahre alt.

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Die Religion ist von 326 Personen bekannt. Obwohl christliche und jüdische Religionen Homosexuelle traditionell diskriminierten, waren doch viele Mitglieder in diesen Organisationen. Wie in Süddeutschland zu erwarten, hatten katholische Christen mit 47% den größten Anteil, gefolgt von den evangelischen Christen mit 45%. 5% bezeichneten sich als gottgläubig. So bezeichneten sich im NS-Staat Personen, die sich weder zu einer Religionsgemeinschaft bekannten, noch als glaubenslos bezeichnen wollten. Nur 3 Personen gaben an, ohne Glauben zu sein. 6 Personen hatten den jüdischen Glauben bzw. wurden wegen ihrer Herkunft vom NS-Regime so eingestuft.

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Von 569 Personen ist das Alter beim Erstnachweis in Haft bekannt. Ersatzweise konnte auch das Alter zur Verurteilung verwendet werden, falls der Erstnachweis in Haft fehlte. Mit 12% waren erstaunlich viele Jugendliche von der Verfolgung betroffen. Die jüngsten beiden waren 14 Jahre alt als sie verurteilt wurden und in Haft bzw. Jugendarrest gingen. Die ältesten Betroffenen waren 77 bzw. 83 Jahre alt.

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28 Personen mit Bezug zu Mannheim sind bekannt. Bezug zu Mannheim heißt, sie sind hier geboren worden oder hatten hier ihren letzten Wohnsitz, sie wurden hier verhaftet oder verurteilt oder in Strafhaft genommen. Mannheim hatte ein großes Gefängnis und auch ein Landgericht, das für eine größere Region zuständig war. Auch andere Orte sind nur deshalb so stark vertreten, weil sie Standort eines Landgerichts oder einer Haftanstalt waren.

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Als letzter Wohnort vor einer Verfolgung ist mit großem Abstand Stuttgart mit 61 Personen bekannt. Dann folgen Mannheim und Freiburg i.Br. mit je 25 §175-Opfer.

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Die meisten Verurteilungen, 65, sind aus Stuttgart bekannt. Dass dann bereits mit je 43 Urteilen Offenburg und Konstanz kommen ist dem Umstand zu verdanken, dass William Schaefer die Register der dortigen Gerichte systematisch ausgewertet hat. Er hat auch die Register von Freiburg i.Br. (35) und Waldshut (10) ausgewertet.

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Leider fehlen oft die genauen Paragraphenangaben, weshalb die Statistik der Straftatbestände zwangsweise unsicher bleiben muss. Exakte Angaben lassen sich nur den Urteilen selbst entnehmen, die aber meist fehlen. Von 383 Personen sind die “Haupt-Straftatbestände» bekannt. Daneben konnten noch andere Straftatbestände hinzukommen, wie z.B. Diebstahl, Erpressung oder Unterschlagung. War neben §175 auch §175a betroffen, wurde letzterer vorangestellt, gleich, ob dies von der Bedeutung im Urteil her gerechtfertigt war. Ebenso wurde §176 (Pädophilie) gegebenenfalls vorangestellt. Ich gewann den Eindruck, dass mit der Bezeichnung der Straftat bei der Erstellung von Karteikarten nicht sehr sorgfältig umgegangen wurde, so dass hier eine besonders große Unsicherheit besteht. Kam es zu einer Zuchthausstrafe wurde i.d.R. vermutet, dass §175a betroffen war, auch wenn §175 angegeben wurde. Außerdem muss hier berücksichtigt werden, dass aufgrund meines Forschungsansatzes die schwereren Fälle stärker vertreten sein dürften.


59% verurteilte man nach § 175. Als Opfern des § 175 StGB, der eine Gefängnisstrafe vorsieht, gelten Personen, zu denen die Angabe § 175 und “widernatürliche Unzucht» bzw. “Unzucht», “Unzucht mit Männern» vorliegen und eine Gefängnisstrafe verhängt wurde. Zu den 33% Opfern des § 175a StGB, der die Zuchthausstrafe vorsieht, werden Personen gezählt, die trotz Angabe von § 175 zu Zuchthausstrafen verurteilt wurden. Ebenso bei Bemerkungen §175 und “Verbrechen» und bei der Angabe “schwere Unzucht». 8% der Personen verurteilte man auch nach §176 wegen Pädophilie.

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Von 370 Personen ist bekannt, zu welcher Art der Haftstrafe sie verurteilt wurden. Es war zu 75% eine Gefängnisstrafe und zu 25% eine Zuchthausstrafe. Auch hier muss berücksichtigt werden, dass aufgrund meines Forschungsansatzes die schwereren Fälle stärker vertreten sein dürften.


Weitere Strafen waren neun Todesurteile, dreimal Straflager für drei Polen, zweimal Jugendarrest und einmal Strafbefehl.

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Von 373 Personen ist die Dauer der Haftstrafen bekannt. Im Mittel betrugen die Haftstrafen 19,7 Monate. Aufsummiert ergeben sich 612 Jahre Haft. Die 262 Personen, die zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, hatten im Mittel 14,4 Monate zu verbüßen. Die Mindestzuchthausstrafe betrug ein Jahr. Die zu Zuchthausstrafen Verurteilten verbüßten im Mittel 36,1 Monate ihre Strafe; sie waren also zweieinhalbmal solang wie die Gefängnisstrafen und das unter wesentlich erschwerten Bedingungen.

Die größte Gruppe derer, die zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, ist mit 121 Personen die, bei der das Strafmaß unter einem Jahr Gefängnis lag. Die größte Gruppe derer, die zu Zuchthausstrafen verurteilt wurden, lag mit 29 Personen bei den zu zwei Jahren bis zu unter drei Jahren Verurteilten.

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Von 481 Personen ist das Jahr des Urteils bekannt. Die Verurteilungen stiegen ziemlich kontinuierlich von 3 im Jahr 1934 bis zum Maximum der Verfolgung von 86 im Jahr 1939. Reichsweit hatten die Verurteilungen bereits ein Jahr zuvor ihr Maximum erreicht. Dann sanken die Verurteilungen in Baden-Württemberg auf 27 im Jahr 1941 ab und stiegen wieder auf 39 im Jahr 1944.

Von 629 Personen sind die Jahre der Erstnachweise in Haft bekannt. Fehlte diese Angabe, wurde ersatzweise das Jahr des Urteils verwendet. Von 2 im Jahr 1933 stieg die Zahl der Erstnachweise ebenfalls ziemlich kontinuierlich bis zum Maximum im Jahr 1939 von 90 Personen. Dann verringerten sich die Erstnachweise langsam bis 1943 auf 47 um 1944 nochmal auf 68 anzusteigen.

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Zum Alter der § 175-Opfer in der Region des heutigen Baden-Württembergs in der NS-Zeit:

Das mittlere Alter zur Verurteilung von 403 Personen betrug 32,7 Jahre und das mittlere Alter von 543 Personen beim Erstnachweis in Haft betrug 33,6 Jahre. Die Differenz von fast einem Jahr besteht aus einer nicht bekannten Haftzeit. In der Realität dürfte diese nicht bekannte Haftzeit noch größer sein, denn falls kein Erstnachweis in Haft bekannt war, wurde ersatzweise die Zeit des Urteils verwendet. 176 Personen, die 30 bis 39 Jahre alt waren, bilden die größte Gruppe der Erstnachweise in Haft; die zweitgrößte Gruppe bilden mit 167 Personen die 20 bis 29-Jährigen.


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Insgesamt waren mindestens 282 der 680 namentlich bekannten §175-Opfer aus Baden-Württemberg auch in Lagerhaft. Das sind 41%. Diese Höhe dürfte aber nicht repräsentativ sein, denn der Forschungsansatz war ja zunächst die Lagerhaft und damit dürfte der Anteil überhöht sein. Würde in Baden-Württemberg flächendeckend geforscht, dürfte der Anteil sinken. Im intensiver erforschten Niedersachsen lag der Anteil der Personen, die Lagerhaft erleiden mussten, lediglich bei 19%.


Von 122 Personen ist belegt, dass sie in ein KZ kamen, von 118, dass sie in ein Strafgefangenenlager der Justiz kamen und 42 kamen in beide Lagerformen.

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Nur für knapp die Hälfte, 49%, der 680 §175-Opfer mit Bezug zu Baden-Württemberg sind auch die Endereignisse der Verfolgung bekannt.

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Von 336 Personen sind Endereignisse der Verfolgung bekannt. Die Todesrate von 33% ist sicher nicht repräsentativ. Sie ist nur deshalb so hoch, weil mein Forschungsansatz bei den KZ und den Justiz-Strafgefangenenlagern begann, also bei den schwereren Fällen. Die Haftentlassungen von 44% müssten eigentlich viel höher sein. Im besser erforschten Niedersachsen beträgt der Anteil der Haftentlassungen beispielsweise 64% und die Todesrate lediglich 26%. 23% der Opfer gehören zu den Überlebenden. Sie überlebten in Haftanstalten; die Mehrzahl wurde aber im KZ befreit.

Bei den in der NS-Zeit aus der Haft Entlassenen ist nicht auszuschließen, dass sie hinterher nochmals in Haft kamen, dies aber nur nicht bekannt ist.

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Von 111 Personen ist bekannt, wo sie verstarben. 78% verstarben in Konzentrationslager, darunter mindestens 18 im KZ Sachsenhausen und je 11 in den KZ Dachau und Natzweiler in Frankreich, dann folgt KZ Flossenbürg in Bayern mit 10 Toten. 3 starben in Strafgefangenenlager der Justiz (3%), davon 2 in den Emslandlagern und 1 Person im Lager Rodgau in Hessen. Weitere 21 Personen (19%) verstarben an anderen oder an unbekannten Orten, wie beispielsweise 12 in Haftanstalten, 3 in der Tötungsanstalt Grafeneck und 2 in Psychiatrischen bzw. Heil- und Pflegeanstalten.

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20 Personen wurden im KZ Dachau befreit. Dorthin hatte man zuvor vor den anrückenden Alliierten noch viele Häftlinge aus anderen KZ verbracht. 16 Personen befreite man in nicht bekannten KZ. Sie befanden sich noch sehr spät, 1944-1945, im KZ, als praktisch keine Häftlinge mehr entlassen wurden, aber ihr Überleben ist bekannt. 5 Häftlinge überlebten im KZ Mauthausen, 3 im KZ Buchenwald, 2 im KZ Flossenbürg und je 1 im KZ Natzweiler, KZ Neuengamme und KZ Ravensbrück. 9 Personen überlebten in Haftanstalten. 20 Personen überlebten an unbekannten Orten. Ihr Überleben ist oft nur deshalb bekannt, weil durch Anfragen bei Standesämtern oder Stadtarchiven ein Tod nach 1945 bekannt wurde.


 

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