* 9.7.1897 Nürnberg

† 1955 Stuttgart

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Karl Geissler wurde am 9. November 1897 in Nürnberg geboren und evangelisch getauft. Er wohnte später in Stuttgart, war kinderlos verheiratet und arbeitete als Maschinenbauingenieur in der gehobenen Position eines technischer Leiters.

Er berichtete 1948 wie es zu seiner Verhaftung gekommen sei. Er sei am 10. Januar 1941 nach Köln gerufen worden, wo ihm „Vorwürfe wegen Sabotage der Wehrmachtsaufträge“ gemacht worden seien. Er habe bei seiner „letzten Stellung als technischer Leiter die Termine nicht eingehalten bzw. weit überschritten.“ Bei einer Durchsuchung habe die Polizei sein Adressbuch mit den Namen seiner Bekannten gefunden. Darunter seien auch die Namen von fünf Homosexuellen gewesen, von denen zwei „wegen dieser Vergehen vorbestraft“ gewesen seien, wovon er allerdings nicht gewusst haben will. Und so habe man ihn der Kriminalpolizei übergeben, die ihn verhörte. Es sei dann folgendermaßen abgelaufen: „Mein Zustand war so, dass ich alles, was man mir vorlegte, unterschrieb und zugab, da man mir die sofortige Freilassung stets versprochen hat. Ersparen Sie mir bitte auf Einzelheiten einzugehen, da es für mich die Hölle war.“ Mit dieser Darstellung versucht er, sein damaliges Geständnis zu relativieren, wozu er allen Grund hatte. Es war 1948, als er seinen Bericht schrieb, erforderlich, nicht zuzugeben, homosexuell zu sein.

Das Landgericht Köln verurteilte den 43-Jährigen am 16. Juli 1941 wegen zweier versuchter Verbrechen nach § 175a Ziffer 3 StGB und wegen sieben Vergehen nach § 175 StGB zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Beide Paragraphen waren erst 1935 vom NS-Staat eingeführt worden und beinhalteten ein Totalverbot homosexueller Handlungen, die damals „widernatürliche Unzucht“ genannt wurden. Da die Handlungen, die nach § 175a strafbar waren, ein Verbrechen darstellten, wurde eine versuchte Tat genauso bestraft, wie eine vollendete Tat. Die Strafe zielt nicht auf ein Verbrechen selbst, sondern auf die Gefahr der Verbreitung der Homosexualität, die sich aus Sicht des NS-Staates seuchenartig ausbreiten könne. Folgendes waren seine Verbrechen, so das Gericht in der Urteilsbegründung:

„Der Angeklagte ist durch sein glaubwürdiges Geständnis überführt,
I. im November 1940 den am 6.11.1921 geborenen Helmuth P[…] und den am 15. Juni 1921 geborenen Johann N[…], wissend, dass es sich um männliche Personen unter 21 Jahren handelte, verführt zu haben, mit ihm Unzucht zu treiben, indem er P[…] bei zwei Gelegenheiten über der Hose am Geschlechtsteil anfasste und N[…] in wollüstiger Absicht einmal am Oberschenkel anfasste und ein anderes Mal zu küssen versuchte;
II. mit folgenden über 21 Jahre alten Männern Unzucht getrieben zu haben, und zwar: …“

Seine „Opfer“ waren zur Tatzeit 19 Jahre alt gewesen.

Zur Strafverbüßung transportierte man ihn in das Gefängnis Wittlich. Nach voll verbüßter Strafe entließ man ihn im Juli 1943 nicht in die Freiheit, sondern die Staatliche Kriminalpolizei, Kriminalpolizeileitstelle Köln ordnete seine polizeiliche Vorbeugungshaft an und begründete dies, nachdem sie seine Verurteilung dargestellt hatten, im August 1943 folgendermaßen:

„Da mit einer Rückfälligkeit des Geißlers gerechnet und besonders die heranwachsende Jugend, die als zukünftiger Träger des Staates eines besonderen Schutzes bedarf, vor dem verderblichen Einfluss des unverbesserlich erscheinenden Geißler geschützt werden muss, habe ich mit Wirkung vom 20.7.1943 (Ende der Strafverbüßung) die polizeiliche Vorbeugungshaft angeordnet.
Eine Besserung ist erst nach einer langen und strengen Lagerhaft zu erwarten.
Geissler wurde am 28.7.1943 aus dem Gefängnis Wittlich in das Konzentrationslager Natzweiler überführt.“

Dabei berief die Kriminalpolizeileitstelle sich auf den Erlass des RuPrMdI (Reichs- und Preußisches Ministers des Inneren) vom 14.12.1937, in dem die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ und auch die Anwendung der polizeilichen Vorbeugungshaft geregelt ist. Tatsächlich transportiert die Polizei ihn erst am 9. August 1943 in das KZ Natzweiler in Elsass-Lothringen in Frankreich, wo man ihn zur Nummer 4.863 machte und ihn in die Gruppe der § 175-Häftlinge einstufte. Nun wieder zu Geisslers Bericht. Er musste zunächst den schwarzen Winkel der Asozialen tragen, habe dann nach einer Woche den roten Winkel der politischen Häftlinge und schließlich den rosa Winkel der Homosexuellen getragen.

„So war ich nun als Häftling mit homosexueller Veranlagung gebrandmarkt. … Was die Folgen … waren, kann ich nie vergessen und möchte das hier nicht wiedergeben. Gott sei Dank hatte ich im KZ viele Kameraden, für die nicht die Winkelauszeichnung maßgeblich, sondern der Mensch maßgebend war. Ich muss hier erwähnen, es waren nur Ausländer. Die Deutschen sahen nur den Winkel.“

Er gehörte im KZ nun zur untersten Kaste der arischen Häftlinge, nur den nicht-arischen „Untermenschen“ ging es noch schlechter. Homosexuelle wurden im KZ meist schlecht behandelt, weswegen auch über die Hälfte, fast 60%, durch die Strapazen der Haft und Zwangsarbeit und die chronische Unterversorgung im KZ verstarben. Erst gegen Ende der NS-Zeit, als in vielen KZ 90 bis 95% der Häftlinge Ausländer waren, brauchte die SS mehr deutschsprachige Befehlsempfänger und ganz wenige Homosexuelle gelangten in die privilegierten Capo-Funktionen. Dass er noch etwa im frühen Herbst 1944 im KZ Natzweiler lebte und als Hilfsarbeiter eingesetzt wurde, belegt eine Karteikarte, die für das SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt in Berlin erstellt wurde. Dieses wollte mit IBM-Computer den Arbeitseinsatz der KZ-Häftlinge optimieren, was aber nicht gelang. Auf diesen Karten verzeichnete man nicht mehr den Namen, die Häftlingsnummer reichte aus. Vor den heranrückenden alliierten Truppen evakuierte man ihn am 22. September 1944 aus dem KZ Natzweiler in das KZ Dachau, wo er die Häftlingsnummer 110.690 erhielt und in die Häftlingsgruppe der homosexuellen Männer eingestuft wurde. Er berichtete:

„Hier fing das Theater mit den Winkeln wieder an. Zuerst kam der grüne, einige Wochen vor Kriegsende der rosa Winkel. Im April 1945 gelang es mir, auf der Verschleppung von Dachau nach Bad Tölz die Flucht zu ergreifen. Es gelang mir, ich hatte die Freiheit.“

Er ging zurück zu seiner Frau nach Stuttgart und meldete sich dort an. Dabei muss er irgendwas verschwiegen haben, vielleicht den Haftgrund Homosexualität, jedenfalls befürchtete er deswegen angeklagt werden und schrieb diesen fast einzigartigen Bericht, den Ralf Bogen im Staatsarchiv Ludwigsburg auffand (Staatsarchiv Ludwigsburg Ober- u. Mittelbehörden, Ministerium für politische Befreiung, EL 902 I Bü 6004). Aus Scham und wegen der ungebrochenen kontinuierlich fortgesetzten Diskriminierung in der Bundesrepublik Deutschland hat fast keiner der Rosa-Winkel-Häftlinge seine Verfolgung in der NS-Zeit beschrieben. Die Ächtung und die kontinuierliche Menschenrechtsverletzung blieb in der Bundesrepublik bestehen. Geissler schrieb deshalb am 15. April 1948 an den „Herrn öffentlichen Kläger Schmitt, Stuttgart-Degerloch“:

„Meine Verhaftung geschah wegen Sabotage. Im KZ allerdings wurde ich als homosexuell gebrandmarkt. … Ich habe die Angaben im Meldebogen nur weggelassen, da ich mich nicht betroffen fühlte. Nicht etwa um mir Vorteile dadurch zu verschaffen oder Nachteilen aus dem Wege zu gehen.
Ich habe 4 Jahre und 3 Monate in Unfreiheit gelebt. Können Sie nun verstehen, wenn ich Sie heute bitte, von einer Anzeige abzusehen. Ich habe niemals die Vorteile einer politischen Verfolgung benützt und möchte dies auch nicht.
Meine Frau und ich haben in all den Jahren sehr viel mitmachen müssen. Wir beide haben nur noch einen Wunsch, in Freiheit, Ruhe und Frieden leben zu dürfen. …
Bitte lassen Sie mir die Freiheit.
Achtungsvoll Karl Geisler“

Offenbar hatte ein Beamter der Meldebehörde die Falschangaben bemerkt und ihm, der in der Bundesrepublik weiterhin als Vorbestrafter galt, deswegen mit einer Anzeige gedroht, also erneute Diskriminierung. Geissler erwähnt die politischen Häftlinge, die Anspruch auf eine Entschädigung hatten, während die homosexuellen KZ-Häftlinge per Bundesgesetz von einer Entschädigung ausgeschlossen wurden, indem der Gesetzgeber sie unter den antragsberechtigten Personenkreisen nicht erwähnte und sie weiterhin wie gewöhnliche Kriminelle behandelte. Was nach seinem Bittbrief in diesem Verfahren weiterhin geschah, ist mir nicht bekannt.

Karl Geissler verstarb 1955 in Stuttgart im Alter von 57 Jahren.

2002 hob der Deutsche Bundestag pauschal die NS-Verurteilungen nach § 175 in der NS-Fassung von 1935 auf. Rückblickend war er also lange zu Unrecht in Haft gewesen. Auch seine Verurteilung nach § 175a, die der Bundestag nicht aufhob, hätte vor einem kaiserlichen-, weimarer- und bundesrepublikanischen Gericht nach 1969 nicht erfolgen können – sie war rein nationalsozialistisch geprägt.

(Centrum Schwule Geschichte (Hrsg.), Himmel und Hölle, 100 Jahre schwul in Köln, Ausstellungskatalog Köln 2002, S. 51f. Ich danke dem Historiker Dr. Jürgen Müller, Köln, für zusätzliche Informationen. Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem, Jerusalem, Microfilm Project of Yad Vashem, Dokumente des International Tracing Service (ITS), Bad Arolsen. Archiv der Gedenkstätte Natzweiler. Ich danke Mathias Strohbach für zusätzliche Informationen. Ich danke Jean-Luc Schwab für zusätzliche Informationen über das KZ Natzweiler. Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau. Ich danke Albert Knoll, Gedenkstätte Dachau, für Informationen. Ich danke Ralf Bogen, Stuttgart, für den Brief Geisslers, den er im Staatsarchiv Ludwigsburg auffand.)

© Text und Recherche Rainer Hoffschildt


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Von Geissler ist ein Lichtbild aus der Personalakte des KZ Natzweiler (1.1.29.2, Doc-ID 3169877, ITS Digital Archive / Bad Arolsen) und eine Schreibstubenkartei des KZ Dachau mit dem Vermerk „Homo“ überliefert (siehe 1.1.6.7 / Doc-ID 10647677, ITS Digital Archive / Bad Arolsen – Anm. Biggel / Bogen).


pin3d428b  Der Pin auf der Gedenkkarte zeigt Stuttgart, Falbenhennenstraße 13


Täterort in Baden-Württemberg:
nach 1945: Öffentlicher Kläger Schmidt in Stuttgart Degerloch und Staatsanwaltschaft Stuttgart

Weitere Täterorte:
Landgericht Köln
Gefängnis Wittlich
Kriminalpolizeileitstelle Köln
KZ Natzweiler
KZ Dachau